Die im vorigen Abschnitt besprochenen Modelltests ergeben zwar eine tendenziell bessere Vorhersage der Einstellungen der Versuchspersonen durch das projektive Modell als durch den linearen oder affinen Ansatz, allerdings sagen alle genannten Modelle die Einstellungen der Versuchspersonen nur ungenau vorher. Deshalb soll nun auf ganz andere Weise versucht werden, die Überlegenheit des projektiven Modells zu belegen: Unter bestimmten Umständen müssen lineare oder affine Kontexteffekte dazu führen, daß sich in manchen Kontexten keine Farbe finden läßt, die genauso aussieht wie ein hochgesättigter Standardreiz vor einem anderen Umfeld: Wird nämlich der Farbort des Umfeldes in die Richtung eines hochgesättigten Standardreizes verschoben, dann sollte die Adaptation an den veränderten Kontext bewirken, daß sich auch der Farbort des Innenfelds in dieselbe Richtung verschiebt (siehe Seite ). Wenn es sich bei dem Standard aber um einen monochromatischen Reiz handelt, dann müßte dessen Farbort im veränderten Kontext außerhalb des Spektralzugs liegen. Den Koordinaten außerhalb des Spektralzugs entsprechen aber keine Farben.
Im Experiment würde eine derartige Kontextveränderung dazu führen, daß die Versuchspersonen vor dem neuen Kontext vergeblich nach einem Reiz suchen, der genauso aussieht wie der spektrale Standardreiz im Ausgangskontext. Es ist zu erwarten, daß sich dies im Verhalten der Versuchspersonen zeigt, beispielsweise durch eine hohe Variabilität der produzierten Abgleiche, besonders häufige Reizmanipulationen und entsprechend lange Bearbeitungszeiten und vor allem auch durch den Eindruck, keinen passenden Farbabgleich gefunden zu haben. Bei der Betrachtung derartiger abhängiger Variablen in Abschnitt 3.3 zeigt sich aber fast ausnahmslos, daß die Versuchspersonen im veränderten Kontext zu allen Standardreizen einen Abgleich produzieren können, der effizient erstellt wird und den sie als gut beurteilen. Wie nun gezeigt wird, lassen sich dagegen keinerlei Hinweise dafür finden, daß keine dem Standardreiz entsprechende Farbe gefunden werden kann.
Die in Abschnitt 3.1.1 untersuchte Streuung der Normfarbwertanteile der Einstellungen ist bei den monochromatischen Standardreizen eher geringer als bei den anderen. Auch bei Betrachtung der Standardfehler der als wahrgenommene Unterschiede interpretierbaren Distanzen ergibt sich nur für einen monochromatischen Reiz eine außergewöhnlich hohe Streuung; dies trifft aber in beiden Kontexten zu (siehe hierzu die Streuungen der Einstellungen zu Reiz 8 in Tabelle A.7), so daß diese Streuung eher auf Eigenheiten des speziellen Reizes zurückzuführen ist als auf den vergeblichen Versuch, einen nicht realisierbaren Abgleich zu produzieren. Ähnlich sind auch die im DKL-Raum untersuchten Koordinaten der Einstellungen zu den monochromatischen Standardreizen (siehe Abschnitt 3.1.2) zu interpretieren.
Auch die Betrachtung der Form und Lage der Diskriminationsellipsen, die beispielsweise in den Abbildungen 3.1 bis 3.4 gezeigt sind, ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich: Diese Ellipsen sind bei monochromatischen Standardreizen sehr flach und parallel zum Spektralzug, da die Versuchspersonen in diesem Fall immer eine (annähernd) maximale Sättigung wählen. Man könnte dieses Ergebnis als Hinweis darauf interpretieren, daß die Versuchspersonen eigentlich eine noch höhere Sättigung einstellen wollen, sich dann aber mit der maximal möglichen zufrieden geben müssen, was für die Existenz von hypersaturierten Farben sprechen würde. Dieser Befund kann aber auch durch die Strategie der Versuchspersonen erklärt werden, bei den Farben, die sie sich als sehr stark gesättigt gemerkt haben, die maximal mögliche Sättigung einzustellen. Mit dieser Vorgehensweise lassen sich derartige Abgleiche schnell und replizierbar einstellen. Außerdem läßt sich eine hochgesättigte Farben mit der verwendeten Apparatur leichter einstellen, weil deren Farbton deutlicher erkennbar ist. Die Vorteile und Einfachheit dieser Strategie legen ihre Anwendung durch die Versuchspersonen nahe.
Die vergebliche Suche nach einer gleich aussehenden Farbe sollte außerdem zu besonders vielen Aktionen und langen Bearbeitungszeiten führen, weil die Versuchspersonen keine zufriedenstellende Übereinstimmung finden können und deshalb immer neue Einstellungen ausprobieren müssen. In Abschnitt 3.3.1 ergibt sich aber für die Abgleiche im Zielkontext kein Unterschied in der durchschnittlich betätigten Anzahl von Aktionen zwischen monochromatischen und polychromatischen Standardreizen. Auch beim Vergleich der durchschnittlichen Bearbeitungszeiten im Abschnitt 3.3.2 finden sich keine Hinweise darauf, daß zu den monochromatischen Standardreizen im Zielkontext keine Abgleiche gefunden werden: Nur die Versuchsperson SCA benötigt bei den monochromatischen Standardreizen signifikant längere Bearbeitungszeiten als bei den polychromatischen, die anderen Versuchspersonen erstellen die Abgleiche zu den monochromatischen Standardreizen dagegen sogar tendenziell schneller. Da der Unterschied bei der Versuchsperson SCA jedoch in beiden Kontexten auftritt, kann er nicht damit interpretiert werden, daß im Zielkontext vergeblich nach einer entsprechenden Farbe gesucht wird.
Am deutlichsten müßten sich Schwierigkeiten dabei, im Zielkontext einen zum Standardreiz im Ausgangskontext metameren Reiz herzustellen, in der Beurteilung der Güte der Einstellung zeigen. Solche Abgleiche, die bei einer als nicht gleich empfundenen Farbe beendet werden müssen, sollten schlechter beurteilt werden als diejenigen, bei denen eine gleiche erscheinende Farbe gefunden werden kann. Deshalb sollten die Urteile der Versuchspersonen zur Güte ihrer Einstellungen bei den monochromatischen Standardreizen schlechter ausfallen als bei den übrigen Reizen. Wie jedoch in Abschnitt 3.3.4 gezeigt wird, ist genau das Gegenteil der Fall: Außer WES beurteilen alle Versuchspersonen ihre Einstellungen zu den monochromatischen Standardreizen im veränderten Kontext als signifikant besser als ihre Einstellungen zu den anderen Reizen. Diese Tendenz zeigt sich auch bei Versuchsperson WES, allerdings nicht so deutlich (siehe Tabelle 3.5). Daraus folgt, daß auch zu monochromatischen Reizen im Zielkontext Abgleiche hergestellt werden können. Die Tatsache, daß diese Einstellungen sogar besonders gut beurteilt werden, kann mit dem hohen Wiedererkennungswert stark gesättigter Farben begründet werden. Darauf deutet auch hin, daß alle Versuchspersonen ihre Einstellungen zu den monochromatischen Standardreizen im Ausgangskontext ebenfalls signifikant besser beurteilen als ihre anderen Einstellungen (siehe Tabelle 3.5).
Insgesamt legen die in diesem Abschnitt diskutierten Ergebnisse nahe, daß es den Versuchspersonen bei Anwendung der Gedächtnismethode keine Probleme bereitet, auch zu den hier eingesetzten monochromatischen Standardreizen einen Abgleich im Zielkontext herzustellen, zumindest zu den Farben und insbesondere Leuchtdichten, die mit dem hier verwendeten Versuchsaufbau erzeugt werden können. Diese Behauptung wird weiter dadurch bekräftigt, daß keine der Versuchspersonen dem Versuchsleiter von derartigen Schwierigkeiten berichtete. Die hier aufgeführten Verhaltensmerkmale sprechen also gegen lineare oder affine Modelle, aus denen folgt, daß sich zu den monochromatischen Standardreizen kein Abgleiche finden lassen dürften. Einzig mit projektiven Transformationen aufgrund von Kontextänderungen lassen sich diese Befunde erklären.