Mit diesem Experiment soll untersucht werden, durch welche Art von Transformationen sich die Auswirkungen einer Kontextveränderung beschreiben lassen. Die dazu durch kontextübergreifende Farbabgleiche bestimmten Kontexteffekte sind aber mit Gedächtniseffekten konfundiert, weil die Standardreize und die von den Versuchspersonen manipulierten Reize nicht gleichzeitig sichtbar sind. Unter der Annahme, daß das Zentroid der zu einem Standardreiz im Ausgangskontext produzierten Farben jeweils der Gedächtnisfarbe des Beobachters entspricht, lassen sich die Gedächtniseffekte aus dem Unterschied zwischen diesen Gedächtnisfarben und den ursprünglich vorgegebenen Reizen schätzen. Geht man außerdem davon aus, daß sich die Gedächtniseffekte in beiden Kontexten gleich auswirken, dann kann man die bereinigten Kontexteffekte schätzen, indem man die im Zielkontext eingestellten Farben mit den Gedächtnisfarben vergleicht. Die in Abschnitt 3.1.1 beschriebene Auswertung ergibt nur geringe bereinigte Kontexteffekte, die von deutlich größeren unsystematischen Gedächtniseffekten überlagert sind. In diesem Abschnitt soll die Vorhersage solcher Farbveränderungen durch Transformationen, deren Parameter aus den Daten geschätzt werden, diskutiert werden.
Im Abschnitt 3.2 wird versucht, die Normfarbwerte der Einstellungen der Versuchspersonen im Ausgangskontext bzw. im Zielkontext durch ein lineares, affines oder projektives Modell aus den Normfarbwerten der vorgegebenen Standardreize bzw. der Gedächtnisfarben vorherzusagen, indem die entsprechenden Transformationsmatrizen aus den Koordinaten der Einstellungen zum jeweiligen Standardreiz geschätzt werden. Wie auch in der Untersuchung von Kiener (1995) lassen sich aber sowohl die Abgleiche im Ausgangskontext als auch im Zielkontext signifikant besser durch die Mittelwerte der jeweiligen Einstellungen vorhersagen, wie ein Likelihood-Quotienten-Test ergibt. Weder die gesamten Kontext- noch die Gedächtniseffekte werden durch die untersuchten Modelle erfaßt. Betrachtet man die von den Gedächtniseffekten bereinigten Kontexteffekte, so erklärt nur bei einer der vier Versuchspersonen das projektive Modell die Daten ebenso gut wie das unrestringierte. Bei einer weiteren Versuchsperson ist das affine Modell genauso gut wie das projektive, bei den beiden anderen erklärt das projektive Modell die Daten besser. Diese Modelltests deuten also auf eine Überlegenheit des projektiven Modells hin. Nun sollen die Gedächtnis- und Kontexteffekte getrennt betrachtet werden.
Die unsystematischen Gedächtniseffekte zeigen sich, beispielsweise in den Abbildungen 3.1 bis 3.4, deutlich an der Abweichung der mittleren Einstellungen einer Versuchsperson von dem im selben Kontext vorgegebenen Standardreiz, die keiner linearen, affinen oder projektiven Systematik folgt, wie die im letzten Abschnitt besprochenen Modelltests ergeben. Allerdings besteht eine relativ hohe Übereinstimmung der Gedächtniseffekte zwischen den Versuchspersonen und zwischen den beiden Kontextbedingungen, die durch die Bildung von Gedächtnisfarben begründet werden kann.
Das Zustandekommen von Gedächtnisfarben (siehe Abschnitt 1.4) wird meist dadurch erklärt, daß die Versuchspersonen zu einem vorgegebenen Reiz eine prototypische Farbe assoziieren. In dem hier beschriebenen Experiment liegt die Bildung solcher Gedächtnisfarben besonders nahe, da die Standardreize aufgrund der Eigenschaften des LCTF selbst gewissen Schwankungen unterliegen. Die Farbabgleiche werden dann nicht zu den vorher präsentierten Standardreizen erstellt, sondern zu den mit diesen assoziierten und stabileren Gedächtnisfarben. Tatsächlich geben auch alle Versuchspersonen an, die präsentierten Reize jeweils auf bekannte Objekte aus ihrer Umwelt bezogen zu haben. Aufgrund solcher Assoziationen kann sich die Gedächtnisfarbe in eine entsprechende, von Reiz zu Reiz verschiedene, Richtung verschieben (siehe Siple & Springer, 1983). Nach Zimmer (1980) bewirkt die Zuordnung einer Wahrnehmung zu vertrauten Objekten eine höhere inter- und intraindividuelle Konstanz, die in diesem Experiment dazu führen kann, daß die Gedächtniseffekte zwar relativ groß sind, aber im Vergleich dazu nur verhältnismäßig geringe Streuungen der aus dem Gedächtnis reproduzierten Farben beobachtet werden (siehe z.B. die Abbildungen 3.1 bis 3.4).
Die in der Literatur zu Gedächtniseffekten bei Farben oft berichtete systematische Verschiebung der Gedächtnisfarben in Richtung stärkerer Sättigung (siehe Abschnitt 1.4) zeigt sich hier nicht. Die eher gegenläufige Tendenz der Einstellungen in diesem Experiment wird im Abschnitt 3.1.1 mit der relativ hohen Sättigung der Standardreize begründet. Da in unserer natürlichen Umgebung kaum hochgesättigte Farben vorkommen, liegt eine Tendenz dieser Gedächtnisfarben in Richtung Weißpunkt nahe, wenn die Versuchspersonen versuchen, die Farben mittels bekannter Objekte zu memorieren.
Obwohl sich weder die Gedächtniseffekte noch die gesamten Kontexteffekte durch eines der hier untersuchten Modelle beschreiben lassen, gilt dies für deren Differenz - nämlich die unter den in Abschnitt 3.2 beschriebenen Annahmen berechneten bereinigten Kontexteffekte - schon: Die Farbeinstellungen von zwei Versuchspersonen werden zwar besser durch das unrestringierte Modell vorhergesagt, von den spezifischeren Transformationen beschreibt aber die affine die Meßwerte ebensogut wie die projektive. Bei den beiden anderen Versuchspersonen ist dagegen das projektive Modell überlegen. Bei einer Versuchsperson beschreibt das projektive Modell die Daten sogar genausogut wie das unrestringierte. Insgesamt sprechen die Modelltests somit dafür, daß sich die bereinigten Kontexteffekte eher projektiv auswirken als affin oder gar linear. Wegen der schwachen Ausprägung dieser Effekte wird deren Beschreibung durch die hier diskutierten Modelle erschwert, da sich unsystematische Streuungen dann stärker auswirken können.
Für die im Vergleich zu den Gedächtniseffekten geringen Kontexteffekte lassen sich verschiedene Ursachen nennen: Der Unterschied zwischen den beiden verwendeten Kontexten ist möglicherweise nicht ausgeprägt genug, um zu den deutlichen in der Literatur dokumentierten Kontexteffekten (siehe beispielsweise Kapitel 5.12 von Wyszecki und Stiles, 1982) zu führen. Ein anderer Grund für die schwachen Kontexteffekte könnte die wegen der relativ großen Fläche des Zielreizes nur gering ausgeprägte Induktion von Simultankontrast sein (siehe Graham & Brown, 1965; Bäuml, 1997). Nach Jameson und Hurvich (1961) fällt Farbinduktion außerdem deutlich geringer aus, wenn die betreffenden Reize nicht direkt aneinander angrenzen, was wegen der in Abschnitt 2.1 beschriebenen diffusen Grenze des Zielreizes in der vorliegenden Untersuchung der Fall ist.
Auch die in Abschnitt 2.4 beschriebenen starken wellenlängenabhängigen Schwankungen in der Transmission des LCTF können zu einer geringen Ausprägung der Kontexteffekte führen: Bei geringen Änderungen der am LCTF eingestellten Wellenlänge können deutliche Änderungen in dessen Transmission und damit in der Leuchtdichte des produzierten Reizes auftreten, an denen sich die Versuchspersonen bei der Herstellung der Farbabgleiche orientieren können. Dies trägt dazu bei, daß die Streuung der Einstellungen wegen solcher ``Orientierungshilfen'' relativ gering ist. Da diese Einbrüche im Spektrum des LCTF unabhängig vom Kontext sind, könnten sie dazu führen, daß sich mögliche Kontexteffekte nicht auswirken, weil sich die Versuchspersonen beim Erstellen der Farbabgleiche nur an solchen Besonderheiten und kaum am farblichen Aussehen des Reizes orientieren. Allerdings sind die im Experiment eingesetzten Standardreize so ausgewählt, daß solche charakteristischen Schwankungen in deren Nähe minimal sind.
Als weitere Ursache für die schwachen Adaptationseffekte kommt die schnelle Erstellung der Farbabgleiche in Frage: Die mittlere für einen Abgleich benötigte Zeit liegt für die Einstellungen im veränderten Kontext je nach Standardreiz zwischen 23 und 36 Sekunden, was für eine vollständige Adaptation an den Kontext zu kurz ist: Nach Fairchild und Reniff (1995) beträgt die Adaptation zu diesem Zeitpunkt nur zwischen 50 und 75% (siehe Abschnitt 1.3.4). Wie aber in Abschnitt 3.1.1 gezeigt wird, besteht keine Korrelation zwischen der Größe des Kontexteffektes und der Dauer der Adaptation an den Kontext. Unter den in diesem Experiment gegebenen Bedingungen scheint die Adaptation somit beim Beenden der Farbabgleiche schon weitgehend abgeschlossen zu sein. Dies könnte an dem geringen Leuchtdichte-Unterschied zwischen Innenfeld und Kontext liegen, der nach Fairchild und Reniff (1995) eine schnellere Adaptation bewirkt.
Auch die in Abschnitt 1.3.4 behandelten Instruktionseffekte können zur Erklärung der geringen Kontexteffekte herangezogen werden: Die Versuchspersonen sollen eine Farbe einstellen, die genauso aussieht wie der vorgegebene Standard. Bei Befolgung dieser Instruktion wirken sich Kontexteffekte geringer aus als bei der Anweisung, die Farbe so einzustellen, daß sie wie zum selben Objekt gehörend aussieht (siehe Abschnitt 1.3.4). Außerdem besitzt der Kontext eine etwas geringere Leuchtdichte als die Standardreize, so daß diese eher als selbstleuchtend empfunden werden. Dieser Eindruck verhindert ebenfalls, daß der Zielreiz als zu einem Objekt gehörig wahrgenommen wird.
Die schwachen Kontexteffekte sind also vor allem auf die isolierte Beurteilung des farblichen Aussehens und auf den geringen Simultankontrast zurückzuführen, der sich aus räumlichen Eigenschaften des Zielreizes ergibt. Die ausgeprägten Gedächtniseffekte beruhen dagegen auf der Zuordnung der Farben zu bestimmten Objekten oder Kategorien.