Ähnlich wie die im letzten Abschnitt beschriebenen Kontexteffekte können auch Gedächtniseffekte zur Veränderung von Farben führen, da sich aus dem Gedächtnis reproduzierte Farben oft deutlich von den ursprünglich präsentierten unterscheiden. Durch die sukzessive Darbietung von Standard- und Zielreiz in Experimenten zum Farbabgleich, die man als Gedächtnismethode bezeichnet, können Kontexteffekte sogar von den Gedächtniseffekten überlagert werden. Die Erstellung von Farbabgleichen aus dem Gedächtnis ist also nicht unproblematisch.
Newhall, Burnham und Clark (1957) nennen folgende Unterschiede, die sich bei Anwendung der Gedächtnismethode gegenüber einem Simultanvergleich ergeben: Die Streuung der Farbabgleiche nimmt zu, es wird weniger Zeit für einen einzelnen Abgleich benötigt, es werden Reize mit höherer Sättigung eingestellt und die Leuchtdichte der Einstellungen wird ebenfalls geringfügig erhöht. Dem Nachteil der systematischen Verschiebung und der höheren Streuung steht aber auch der Vorteil dieser Methode gegenüber, daß es sich hierbei eher um ein Verfahren handelt, das auch im täglichen Leben Anwendung findet. Versuchspersonen sollten nach Newhall et al. (1957) deshalb mit dieser Methode besser zurecht kommen als mit einem Simultanvergleich.
Uchikawa und Ikeda (1981) untersuchen den Einfluß der Gedächtnismethode auf die Wellenlängendiskrimination bei sehr kurzem Behaltensintervall. Bis zu einem Intervall von 60 Millisekunden zwischen Ende der Präsentation des Standardreizes und Beginn der Präsentation des Vergleichsreizes finden sie keinen Unterschied zum Simultanvergleich. Wird das Behaltensintervall aber schrittweise bis auf etwa 300 Millisekunden erhöht, wächst die Unterschiedsschwelle je nach Versuchsperson und überprüfter Wellenlänge des Standardreizes auf das 1.5- bis 3.0-fache des Wertes beim Simultanvergleich an. Ähnliche Ergebnisse findet Uchikawa (1983) auch für die Diskriminationsschwelle für Sättigungsunterschiede, wenn die Reize für 1000 Millisekunden präsentiert werden und das Behaltensintervall 3000 Millisekunden beträgt.
Die im letzten Abschnitt vorgestellten Unterschiede zwischen Simultan- und Sukzessiv-Vergleich lassen sich damit begründen, daß nicht die Farbempfindung memoriert wird, sondern eine dieser Farbempfindung zugeordnete Kategorie. Kaiser und Boynton (1996, S. 506f.) belegen diese Ansicht und folgern, daß die Farbrepräsentation daher zumindest teilweise unabhängig von der spektralen Zusammensetzung des Reizes ist. Hardin (1998) nennt verschiedene Befunde, die für angeborene Mechanismen der Farbkategorisierung sprechen. Es lassen sich beispielsweise Hinweise darauf finden, daß diese Farbkategorien bereits auf einer vorbegrifflichen Ebene bei vier Monate alten Säuglingen (Bornstein, Kessen & Weiskopf, 1976) und bei Makaken (Sandell, Gross & Bornstein, 1979) bestehen. Zimmer (1982) findet Belege für die Universalität solcher Farbkategorien, die sich aufgrund der Mechanismen der Farbwahrnehmung ergeben.
Hering (1920) verwendet erstmals den Begriff der Gedächtnisfarben, um den von Gegenständen hervorgerufenen und in deren Abwesenheit memorierten Farbeindruck zu bezeichnen. Katz (1930) betont bei der Definition des Begriffs der Gedächtnisfarben, daß sie als ``Farben bekannter Objekte fungieren, mit denen sich diese bei normaler Beleuchtung darbieten'' (Katz, 1930, S. 251). Für Reproduktionen von Farben aus dem Gedächtnis beschreibt er systematische Verzerrungen in Richtung höherer Sättigung. Insbesondere bei Objektfarben sind diese Gedächtniseffekte ausgeprägt und uneinheitlich sowie für das jeweils zu erinnernde Objekt charakteristisch. Burnham und Clark (1955) stellen beispielsweise fest, daß ``these `hue shifts' in memory do not show a consistent direction of change for which there is any obvious explanation'' (Burnham & Clark, 1955, S. 169).
Bartleson (1959) untersucht die aus dem Gedächtnis reproduzierten Farben, indem 50 Beobachter aus einer Menge von 931 Munsell-Chips diejenigen heraussuchen sollen, deren Farbe vertrauten Objekten wie roten Ziegeln, grünem Gras oder blauem Himmel entspricht. Es ergibt sich zwar eine relativ hohe Konsistenz zwischen den Versuchspersonen, allerdings zeigen sich systematische Verschiebungen des Farbtons sowie höhere Helligkeit und Sättigung als bei den tatsächlichen Objekten vorzufinden sind. Siple und Springer (1983) untersuchen die aus dem Gedächtnis reproduzierte Farbe von Fotos, auf denen Früchte und Gemüse abgebildet sind, und finden, daß Farbton und Helligkeit im allgemeinen gut reproduziert werden können, während eine Tendenz dazu besteht, die Farben gesättigter zu erinnern als sie es tatsächlich sind. Außerdem können sie keinen Einfluß eines Kontextes auf die aus dem Gedächtnis reproduzierten Farben nachweisen.
Heider (1972) untersucht prototypische Farben, die sie als focal colors bezeichnet und die den sprachlichen Farbbezeichnungen am nächsten kommen sollen. Die Autorin kommt aufgrund des von ihr beschriebenen Experiments I zu dem Schluß, daß die prototypischen Farben immer sehr stark gesättigt sind. Ihr Experiment III führt sie zu der Annahme, daß diese Farben auch dann am besten erinnert werden können, wenn in der Sprache der Versuchsperson hierfür kein Wort vorhanden ist (ein Teil der Versuchspersonen sind Dani aus Neu Guinea, in deren Sprache keine Farbnamen vorkommen). Auch Siple und Springer (1983) diskutieren, ob der Gedächtniseinfluß auf die erinnerten Farben davon abhängt, daß den entsprechend gefärbten Objekten Begriffe zugeordnet werden können.
Jim und Shevell (1996) untersuchen den Einfluß eines Kontextes auf die Gedächtnisrepräsentation eines Reizes, indem sie nach einem zehnminütigen Behaltensintervall Abgleiche zu einer nur einmal präsentierten Farbe herstellen lassen. Ein einfarbiger Testreiz wird entweder vor einem komplexen mehrfarbigen Hintergrund oder vor einem einfachen neutralen Umfeld dargeboten. Es zeigt sich, daß eine Beleuchtungsänderung zwischen Lern- und Testphase vor dem komplexen Kontext keine Veränderung des reproduzierten Reizes bewirkt, vor dem neutralen Kontext dagegen schon. Die Autoren interpretieren diesen Befund so, daß bei neutralem Kontext eher ein Erlernen der Rezeptorreaktionen erfolgt, während die Versuchspersonen bei dem komplexen Kontext eher lernen, die beleuchtungsunabhängige Oberflächenreflektanz des simulierten Objektes zu schätzen. Bleibt der Kontext unverändert, so treten bei komplexerem Umfeld größere Gedächtniseffekte auf als bei einfachem.
Auch Brainard und Wandell (1992) untersuchen mit Hilfe der Gedächtnismethode den Einfluß von komplexen Kontexten und kommen zu dem Schluß, daß aufgrund der Adaptation des Beobachters an die jeweilige Beleuchtung keine Farbabgleiche auf der Rezeptorebene stattfinden, sondern ``neural equivalences at a later point in the visual pathways'' (Brainard & Wandell, 1992, S. 1433). In einem Vergleich verschiedener Modelle (linear, affin und von Kries'sch) finden sie, daß das einfache Modell nach von Kries (1905) die Daten genauso gut vorhersagt wie die komplexeren Modelle.
Das Wahrnehmen von Farben vor einem strukturierten farbigen Kontext führt also zu größeren Gedächtniseffekten, die so gerichtet sind, daß die aus dem Kontext geschätzten Beleuchtungseinflüsse kompensiert werden. Diese Gedächtniseffekte lassen sich allgemein als Veränderung einer ursprünglich wahrgenommenen Farbe hin zu einer Gedächtnisfarbe charakterisieren, die bei einfachen Reizkonfigurationen zu einem typischen Vertreter der entsprechenden Farbkategorie tendiert. Bei natürlichen Objekten verändert sie sich in Richtung der Farbe, in der das Objekt oder ein typischer Vertreter aus der dazugehörigen Objektkategorie unter normalen Beleuchtungsbedingungen wahrgenommen wird. Oft werden dabei Helligkeit und insbesondere Sättigung überschätzt.