Bei der Farbwahrnehmung handelt es sich um ein psychologisches Phänomen, dessen Struktur sich theoretisch gut erfassen läßt: Man kann Farben als Äquivalenzklassen von Spektren gleich wahrgenommener elektromagnetischer Schwingungen betrachten und sie durch Farbvektoren repräsentieren, die innerhalb eines in den dreidimensionalen reellen Vektorraum eingebetteten konvexen Kegels liegen. Das farbliche Aussehen eines Reizes und damit auch dessen Vektorrepräsentation hängen von verschiedenen Beobachtungsbedingungen ab. Einen wichtigen Faktor stellen dabei Kontexteffekte dar, die in dem Einfluß eines farbigen Umfeldes auf die Farbe des Reizes bestehen und die sich als Transformation der Farbvektoren beschreiben lassen.
Es existieren verschiedene theoretisch begründete Vorstellungen dazu, von welcher Art diese Transformationen sein können. Im einfachsten Fall wird eine lineare Transformation der Farbvektoren aufgrund einer Anpassung der Empfindlichkeiten der Rezeptoren, die die Farbwahrnehmung ermöglichen, an die Beleuchtungsverhältnisse vorgeschlagen (von Kries, 1905). Verschiedene Gegenfarben-Theorien (z.B. Jameson & Hurvich, 1972; Walraven, 1979) gehen hingegen davon aus, daß eigentlich die Differenz zwischen Farben und deren Umfeld entscheidend ist und postulieren deshalb affine Kontexteffekte, die auch eine kontextbedingte Verschiebung berücksichtigen können. Wird zusätzlich noch eine Normierung der Farben bezüglich ihres Hintergrundes angenommen, müssen die Kontexteffekte durch projektive Transformationen beschrieben werden (Yilmaz, 1962; Drösler, 1993).
Diese verschiedenen Modelle lassen sich experimentell anhand kontextübergreifender Farbabgleiche überprüfen: Dazu sollen Versuchspersonen vor einem Zielkontext genannten Hintergrund einen Farbreiz so verändern, daß er genauso aussieht wie ein vor einem anderem, als Ausgangskontext bezeichneten, Hintergrund vorgegebener Standardreiz. Aus den zu verschiedenen Standardreizen erhobenen Farbabgleichen lassen sich dann die Parameter der Transformationen schätzen, die die Kontexteffekte beschreiben sollen. Die Eignung der verschiedenen Modelle läßt sich feststellen, indem man prüft, wie gut die empirisch gemessenen Einstellungen mit den von den verschiedenen Modellen vorhergesagten übereinstimmen.
Aus dem linearen und affinen Modell läßt sich außerdem die überprüfbare Aussage ableiten, daß bestimmte Farben bei einem Kontextwechsel so verändert werden, daß deren Repräsentation außerhalb des oben eingeführten Farbkegels liegt und somit kein physikalischer Farbreiz existiert, der diese Empfindung hervorrufen könnte. Da bei Transformation des Farbkegels zuerst dessen Randbereiche nicht mehr überlappen, sind davon insbesondere die am Mantel des Farbkegels liegenden Farben betroffen, deren Sättigung maximal ist. Bei den ihnen zugrunde liegenden Reizen handelt es sich um solche mit sehr schmalbandigen Spektren, die als monochromatische Reize bezeichnet werden. Lineare oder affine Kontexteffekte sollten im Experiment dazu führen, daß zu bestimmten im Ausgangskontext dargebotenen monochromatischen Standardreizen kein Farbabgleich im Zielkontext hergestellt werden kann. Läßt sich dagegen zu jeder Farbe eine Entsprechung im Zielkontext finden, muß der Kegelmantel bei Veränderungen des Kontextes invariant bleiben. Diese Forderung kann durch projektive Transformationen erfüllt werden, nicht jedoch durch lineare oder affine.
Zur Klärung der Frage nach der Invarianz des Mantels des Farbkegels wird ein Experiment durchgeführt, bei dem zu verschiedenen, teils auch monochromatischen Standardreizen kontextübergreifende Farbabgleiche durchgeführt werden. Die monochromatischen Standardreize sind dabei so ausgewählt, daß bei linearen oder affinen Transformationen der Farben beim Übergang von dem hier verwendeten Ausgangskontext zum Zielkontext zu erwarten ist, daß im Zielkontext kein Reiz gefunden werden kann, der ebenso aussieht wie der monochromatische Standardreiz im Ausgangskontext. Dazu wird ein in Kapitel 2 ausführlich dargestellter neuentwickelter Versuchsaufbau eingesetzt, der es mit vergleichsweise geringem Aufwand ermöglicht, variable monochromatische und polychromatische Innenfelder vor einem farbigem Hintergrund zu präsentieren. Wenn zu einem Standardreiz keine Entsprechung im Zielkontext gefunden werden kann, müßte sich dies im Verhalten der Versuchspersonen bei solchen Farbabgleichen und in deren Urteil zur Güte des von ihnen eingestellten Abgleichs zeigen. Ist dies dagegen nicht der Fall, lassen sich die so bestimmten Kontexteffekte nur durch projektive Transformationen beschreiben. Dies sollte sich auch darin zeigen, daß diese die Koordinaten der Einstellungen der Versuchspersonen besser vorhersagen können als lineare oder affine Transformationen.
Mit diesem Experiment soll also die Frage nach der Art der Kontexteffekte untersucht werden, indem einerseits die Eignung verschiedener Modelle zur Vorhersage der Kontexteffekte untersucht wird und andererseits im Verhalten der Versuchspersonen bei der Durchführung der Farbabgleiche nach Hinweisen darauf gesucht wird, daß sich zu bestimmten Standardreizen keine Abgleiche herstellen lassen. Lassen sich nämlich im veränderten Kontext immer gleich aussehende Farben finden, dann eignen sich lineare oder affine Modelle prinzipiell nicht zur Beschreibung von Kontexteffekten. Die zur Durchführung und Interpretation dieses Experiments notwendigen Konzepte werden den folgenden Kapiteln eingehend dargestellt.