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Hypersaturierte Farben als Kontexteffekte

Die bisher in diesem Kapitel beschriebenen Kontext- und Gedächtniseffekte führen immer dazu, daß aus den ursprünglichen Farben auch bei Kontextwechsel bzw. Gedächtnisabruf wieder Farben werden. Nun soll die Existenz von Kontexteffekten erörtert werden, die zu besonderen Farben führen, die sonst angeblich nicht existieren: Unter bestimmten Adaptationsbedingungen lassen sich sogenannte hypersaturierte Farben (im Englischen nennt man sie hypersaturated oder auch supersaturated; siehe Wasserman, 1978) erzeugen, deren Sättigung unnatürlich stark empfunden wird, nämlich stärker als die Sättigung eines bunttongleichen Spektralreizes. Die in Abschnitt 1.1.2 eingeführte Repräsentation einer derartigen Farbe im dreidimensionalen Vektorraum müßte dann außerhalb des darin eingebetteten Farbkegels liegen. Wie aber bereits dort dargestellt ist, werden Farbreize immer innerhalb des Farbkegels repräsentiert, wenn die Graßmann-Struktur der Farben gilt. Es stellt sich die Frage: Existieren hypersaturierte Farben?

Schiffman (1990) will derartige hypersaturierte Farben auf folgende Weise demonstrieren: Längeres Einwirken eines Farbreizes auf ein bestimmtes Netzhautareal führt dazu, daß dessen Sättigung unbemerkt nachläßt und es zu einem Nachbild in der Gegenfarbe kommt, weil die entsprechenden Rezeptoren ermüden. Längeres Betrachten eines blauen Reizes bewirkt beispielsweise ein gelbes Nachbild. Richtet man nun den Blick auf einen gegenfarbigen Reiz (hier eine gelbe Fläche), dann findet eine ``additive mixture of the yellow afterimage and the yellow surface'' (Schiffman, 1990, S.255 f.) statt und die gelbe Fläche erscheint stärker gesättigt als normal (siehe hierzu die Demonstration in Tafel 4 und 5 von Schiffman, 1990). Obwohl sich auf diese Weise durch Sukzessiv-Kontrast der Eindruck von sehr stark gesättigten Farben erzeugen läßt, ist aber hierdurch die Existenz hypersaturierter Farben noch nicht belegt, da durchaus ein monochromatischer Reiz existieren kann, der als genauso oder sogar noch stärker gesättigt empfunden wird.

Ähnlich verhält es sich mit der von Schiffman (1990) ebenfalls postulierten Hypersaturierung durch Simultankontrast, der sich zum Beispiel bei längerem Fixieren eines scharf von seinem neutralen Umfeld abgegrenzten Farbreizes dadurch bemerkbar macht, daß an den Rändern des Reizes dessen Gegenfarbe in sein Umfeld induziert wird. Als Ursache hierfür nennt Schiffman (1990) die Tatsache, daß beim Betrachten des Reizes die Blickrichtung geringen Schwankungen unterworfen ist und deshalb das Abbild des Farbreizes auf der Retina nicht völlig stationär ist. Dadurch finden auch in den Randbereichen außerhalb des Zielreizes Erschöpfungsprozesse statt, die als induzierte Gegenfarben wahrgenommen werden. Ersetzt man das neutrale Umfeld durch ein dem Zielreiz gegenfarbiges, so tritt an der Grenze wieder das Phänomen der Supersaturierung auf (siehe hierzu die Demonstration in Tafel 6 von Schiffman, 1990). Auch hier gelten aber wieder die im letzten Absatz genannten Einwände gegen die Behauptung, hier handele es sich tatsächlich um hypersaturierte Farben.

Der achromatische Fall

Auf ein den hypersaturierten Farben ähnliches Phänomen, bei dem der zugrundeliegende Mechanismus deutlich wird, stößt Heinemann (1955) bei Präsentation von achromatischen Reizen: Die Versuchspersonen sollen einen ihrem linken Auge isoliert dargebotenen Reiz so einstellen, daß er gleich hell erscheint wie ein dem rechten Auge präsentierter Standard, der von einem achromatischen Umfeld umgeben ist. Ein Umfeld, das dunkler als das Innenfeld ist, läßt dieses heller erscheinen und umgekehrt nimmt die wahrgenommene Helligkeit eines Reizes in einem zunehmend helleren Kontext ab. Ist das Umfeld aber deutlich heller als der Standardreiz, dann empfinden die Versuchspersonen den isoliert präsentierten Zielreiz immer heller als den Standard. Der Standardreiz vor dem helleren Hintergrund erscheint sogar dunkler als die Abwesenheit eines physikalischen Reizes.

Läßt sich diese Beobachtung auf farbige Reize übertragen, dann sollten vor einem gegenfarbigen Hintergrund präsentierte Farben stärker gesättigt erscheinen sollten als isoliert oder vor einem ähnlichfarbigen Hintergrund zu betrachtende. Wenn dies auch bei monochromatischen Reizen zutrifft, wäre damit die Existenz hypersaturierter Farben belegt.

Das Experiment von Enoch und Stiles (1961)

 

Unter bestimmten Bedingungen lassen sich hypersaturierte Farben auch ohne Kontexteinflüsse demonstrieren: Stiles und Crawford (1933) zeigen, daß der Winkel, in dem ein Reiz auf ein und dasselbe Netzhautareal projiziert wird, einen Einfuß auf dessen wahrgenommene Intensität hat. Diesen Effekt bezeichnet man auch als den Stiles-Crawford-Effekt erster Ordnung. In einer ähnlichen Untersuchung von Enoch und Stiles (1961) sollen die Versuchspersonen die Wellenlänge eines schräg auf die Retina auftreffenden monochromatischen Reizes so einstellen, daß dieser gleich aussieht wie ein abwechselnd dazu senkrecht auf dasselbe Netzhautareal projizierter monochromatischer Standardreiz. Die dabei auftretenden deutlichen Wellenlängenunterschiede von bis zu 7 nm werden als Stiles-Crawford-Effekt zweiter Ordnung bezeichnet. Für Wellenlängen zwischen 505 und 530 nm zeigt sich dabei eine deutliche Supersaturierung: Der schräg in das Auge eintretende Testreiz muß durch Hinzumischen weiterer Reize entsättigt werden, um genauso auszusehen wie der monochromatische Standardreiz. Mit anderen Worten, der Testreiz ist stärker gesättigt als der monochromatische Vergleichsreiz. Man kann dieses Phänomen mit unterschiedlichen Verlusten durch das optische Medium im Auge erklären und damit, daß die Absorption der Moleküle des Sehfarbstoffs stark von der Richtung abhängt, in der ein Photon auf diese Moleküle auftrifft, weshalb auf der Retina diese Moleküle in den Zapfen in einer speziellen Neigung zur Normalen angeordnet sind.gif

Auch die Untersuchung von Enoch und Stiles (1961) kann aber nicht als eindeutiger Beleg für die Existenz hypersaturierter Farben betrachtet werden: Der Stiles-Crawford-Effekt zweiter Ordnung besteht im wesentlichen in einer Wellenlängenverschiebung. Wie aber in Abschnitt 1.1.4 auf Seite gif gezeigt wird, bestehen auch zwischen monochromatischen Reizen Sättigungsunterschiede. Die scheinbar höhere Sättigung des schräg in das Auge treffenden Reizes kann also auch an der veränderten Wellenlänge liegen.

Erklärungsansätze

Wie von Schiffman (1990) demonstriert wird, läßt sich durch gezielte Rezeptorermüdung und anschließendes Präsentieren eines gegenfarbigen Reizes der Eindruck sehr stark gesättigter Farben hervorrufen. Auf der Rezeptorebene könnte eines der drei Zapfensysteme dann besonders intensiv reagieren, wenn nach einer gewissen Ermüdungsphase (in der mehr Sehpurpur zerfällt als regeneriert wird) bei der Wiederherstellung des ursprünglichen Gleichgewichts eine vorübergehende Überkompensation auftritt. Auf neuronaler Ebene kann eines der Gegenfarben-Systeme relativ zu den beiden anderen besonders stark reagieren, wenn diese beiden durch Präsentation eines entsprechenden Kontextes ermüdet sind, und so den Eindruck unnatürlich stark gesättigter Farben hervorrufen.

Hypersaturierte Farben kommen also nur unter besonderen Bedingungen durch räumliche oder zeitliche Adaptation zustande, wenn ein induzierender Kontext dazu führt, daß eines der beschriebenen physiologischen Farbsysteme im Verhältnis zu den anderen ungewöhnlich stark reagiert, wie bereits Maxwell (1857/1970) und Helmholtz (1867) vermuten. Das Phänomen der Hypersaturierung ist noch wenig untersucht und die genannten Demonstrationen und Experimente belegen deren Existenz nicht eindeutig: Bisher ist noch nicht untersucht, ob dabei tatsächlich Hypersaturierung in dem Sinne auftritt, daß die Farben stärker gesättigt wirken als entsprechende monochromatische Reize.


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Last modified 10-29-98