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Wahrnehmung des zweidimensionalen Raumes

Gerade bezüglich der Raumwahrnehmung spielen philosophische Gedanken eine wichtige Rolle. Zuerst stellte sich das Problem, wie das retinale Abbild räumliche Beziehungen der externen Objekte widerspiegelt. Anschließend stellt sich das Problem, wie man vom zweidimensionalen retinalen Abbild zu einer dreidimensionalen Wahrnehmung gelangen kann. Kants Doktrin von der a-priorie-Intuition behauptet, daß der Sehraum bereits angeboren ist (was die britischen Empiristen nicht so sehen). Wundt unterscheidet dagegen zwischen einfachen Empfindugen und komplexen, erlernten Vorstellungen.

Im Gegensatz zur Farbforschung, bei der nur retinale Prozesse betrachtet werden müssen, müssen bei der Raumwahrnehmung neben der Gestalt des retinalen Abbildes auch andere Faktoren wie die Akkommodation der Linse und die Konvergenz der beiden Augen berücksichtigt werden.

Das retinale Abbild

In der Antike meinte man, die Objekte würden kleine Abbilder ihrer selbst aussenden, die dann wahrgenommen werden können. Alhazen (ca. 1039) glaubte dann, das Augenmedium sei das eigentliche Sinnesorgan. Im 16. Jahrhundert wurde die camera obscura bekannt und beispielsweise von Leonardo da Vinci (1519) mit dem Auge verglichen.

Auch Kepler (1604) vertrat die Ansicht, das Auge entspräche einer camera obscura, und er konnte zeigen, daß die geometrische Form von Objekten erhalten bleibt, wenn die durch ein (beispielsweise rundes oder quadratisches) Loch projiziert werden (ein Quadrat bleibt quadratisch, auch wenn es durch ein dreieckiges Loch projiziert wird). Da das Auge aber über eine Linse verfügt, unterscheidet es sich von einer einfachen camera obscura. Kepler zeigte, wie die Linse ein Abbild auf der Retina erzeugt, welche daher das eigentliche Sinnesorgan sein muß. Er folgerte außerdem, daß das Auge zur Akkommodation fähig sein muß, da sonst nur Objekte in einer bestimmten Entfernung scharf gesehen werden können. Er glaubte, dazu würde die Distanz zwischen Linse und Retina variiert. Er erkannte auch, daß das retinale Abbild spiegelverkehrt ist (was zu einem vieldiskutiertem Pseudoproblem wurde).

Bereits Keppler vermutete, daß man das retinale Abbild auch tatsächlich beobachten können müßte. Scheiner (1625) soll ein entsprechendes Eperiment durchgeführt haben und Descartes (1637) beschreibt, daß er auf der Rückseite eine Stierauges, an der ein durchsichtiges Papier befestigt war, ein solches Abbild erkennen konnte. Für eine längere Zeit wurde daher das retinale Abbild mit der Wahrnehmung identifiziert.

Schon Euklid identifizierte die wahrgenommene Größe eines Objekts mit dem davon umschlossenen Sehwinkel; später vertrat Molyneux (1692) dieselbe Ansicht (die wahrgenommene Ausdehnung entspricht der retinalen Ausdehnung). Berkeley (1709) vertrat dagegen die Ansicht, daß die wahrgenommene Größe eines Objekts vom Wissen um die Entfernung des Objekts abhängt und außerdem davon, daß der Beobachter die genaue Größe des retinalen Abbildes kennt. Diese Ansicht hielt sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, als man sich verstärkt mit optischen Täuschungen beschäftigte. Aber auch dann hielt man die Täuschungen nur für Ausnahmen und die retinale Größe immer noch für den entscheidenden Faktor.

Zum Problem des umgekehrten retinalen Abbildes existieren zwei Theorien: Die ältere Theorie betrachtet das Sensorium (die Seele, den Geist) als ein persönliche Einheit innerhalb des Kopfes, die diejenigen Informationen wahrnehmen kann, die von den Nerven zur Verfügung gestellt werden (Homunculus). Ein solcher Homunculus müßte das retinale Abbild spiegelverkehrt wahrnehmen; hier ergibt sich also ein Problem.

Die neuere Theorie geht dagegen davon aus, daß der Geist das Abbild direkt sieht (und nicht auf der Retina). Dabei wird das Abbild nicht als aufrecht oder spiegelverkehrt empfunden, da nur relative räumliche Beziehungen von Bedeutung sind (wie bereits von Molyneux und Berkeley erkannt wurde).

Einheit des Sehens und der Horopter

Die Lösung des Problems des invertierten Netzhautabbildes besteht also in einer relativistischen Betrachtung. Ungeklärt blieb aber, ob unterschiedliche Regionen der Retina nicht auch unterschiedliche Merkmale besitzen, die sie identifizieren (local signs).

Zuerst muß jedoch das Problem der Einheit beim binokularen Sehen betrachtet werden: Obwohl zwei Augen eingesetzt werden, nimmt man nur ein einziges Abbild der externen Welt wahr. Aguilonius (1613) entwickelte hierzu das Konzept des Horopters als den Ort aller Punkte, die bei binokularer Betrachtung einzeln gesehen werden. Er hielt fälschlicherweise den Horopter für eine Ebene, die den Punkt der Fixation enthält. Bewegt sich der Punkt der Fixation, der einzeln gesehen wird, auf das Auge zu, müssen die beiden Augen stärker konvergieren; die Objekte vor und hinter dem Fixationspunkt erscheinen dann doppelt. Dem liegt die Idee von korrespondierenden Punkten auf den beiden Retinas zugrunde. Die Abbilder nicht fixierter Punkte fallen dann auf nicht-korrespondierende Punkte und werden daher doppelt wahrgenommen. Das Konzept des Horopters macht daher das Problem der Einheit beim Sehen zum Problem der korrespondierenden Punkte. Vor dieser Theorie gab es noch andere Theorien zur Einheit des Sehens:

  1. Projektions-Theorie von Kepler (1611): Die Netzhautbilder werden in den externen Raum projiziert und korrespondierende Bilder werden sozusagen auf die selbe Stelle projiziert und daher nur einmal wahrgenommen. Diese Theorie erklärt aber nicht, wieso manche Punkte richtig projiziert werden (also einfach wahrgenommen werden) und andere nicht.
  2. Theorie des abwechselnden Sehens von Porta (1593): Man sieht abwechselnd mit dem einen und mit dem anderen Auge. Auch diese Theorie kann nicht erklären, warum manche Punkte doppelt gesehen werden und andere nicht.
  3. Anatomische Theorie, die das teilweise Überkreuzen der Sehnerven im Chiasma berücksichtigt (Galen, 175; Newton, 1717): Bereits Newton erkannte, daß die beiden rechten Hälften der Retinas in die rechte Gehirnhälfte projiziert werden und die beiden linke Hälften in die linke Hemisphäre. Hartley (1749) spricht in diesem Zusammenhang bereits von korrespondierenden Punkten. Wollaston (1824) berichtet, daß er bei großer Müdigkeit nur noch mit einer Hälfte des Gesichtsfeldes sehen konnte, was ebenfalls auf die Rolle des Chiasma hinweist.
Die anatomisch Theorie war bereits etwa 1830 voll anerkannt. In der Zwischenzeit wurde auch das Konzept der Horopter und der korrespondierenden Punkte weiterentwickelt. Der Horopter ist in der horizontalen Ebene ein Kreis, der durch den Fixationspunkt und die optischen Zentren der beiden Augen läuft (und nicht, wie von Aguilonius, 1613, angenommen, eine vertikale Ebene). Dieser Zusammenhang wurde von Vieth (1918) herausgearbeitet und von Johannes Müller (1826) unabhängig davon nochmals entdeckt und ausgearbeitet. Der Horopter ist theoretisch (aus geometrischen Überlegungen) ein Kreis, wobei praktisch die Punkte sehr nahe an den Augen und zwischen den Augen nicht wahrgenommen werden können. Bei Veränderung der Fixation verändert sich der Radius des Horopters.

Es zeigte sich jedoch schnell, daß der Vieth-Müller-Kreis nur in der horizontalen Ebene gleich dem Horopter ist. Wenn der Kreis die korrekte Form ist, enthält der Horopter auch die gerade vertikale Linie, die durch die Fixationspunkte läuft (dies stellt den Grenzfall dar). Helmholtz und Hering, die unabhängig voneinander arbeiteten kamen zwischen 1862 und 1866 zu dem Schluß, daß der allgemeine Fall des Horopters eine Linie ist, nämlich eine Kurve vierter Ordnung, die den Schnitt eines Hyperboloids mit einem Kegel beschreibt.

Augenbewegungen

Die Beschreibung der Anatomie und Optik des Auges und die Bestimmung der Konstanten, die zur Bildung des retinalen Abbildes beitragen, sowie die Beschreibung der Augenbewegungen und deren Zusammenhang mit der Konvergenz wurden von Johannes Müller (1826) beschrieben; später waren die Monographien von Helmholtz (1866) und von Hering (1864) besonders wichtig.

Die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten der Augenbewegungen sind die beiden folgenden:

Problematisch daran ist, daß es bei strikter Befolgung von Listings Law zu einer Verletzung von Donders Law kommt, da man bei mehreren aufeinanderfolgenden Blickbewegungen, die wieder in der Ausgangsrichtung enden, mit einer unterschiedlichen Drehung um die eigene Achse des Auges angelangen würde. Bei Gültigkeit von Donders Law muß das Auge bei Änderungen der Blickrichtung sich immer auch etwas drehen. Listings Law gilt dagegen nur für Blickbewegungen aus der ``Ruheposition''.

Die Bedeutung der beiden Gesetze zusammen liegt darin, daß sich die Drehung des Auges für beliebige Blickrichtungen bestimmen läßt: Sie ist immer gleich der Drehung, die sich ergeben würde, wenn aus der Ruheposition direkt in die entsprechende Richtung geblickt würde.

Aufgrund dieser Überlegungen zu den Blickbewegungen formulierte Lotze (1852) seine Theorie der local signs: Auch er geht von konstanten und möglichst einfachen Augenbewegungen aus. Jeder Punkt der Retina wird aufgrund von Erfahrung mit einer Reihe von Eindrücken assoziiert, die entstehen würden, wenn sich das Bild des Objektes vom gegebenen Punkt zum Zentrum der Retina bewegen würde. (also wenn sich das Auge so bewegen würde, daß es einen entsprechenden externen Punkt fixieren würde). Diese Theorie baut darauf auf, daß die Augenbewegungen zwischen verschiedenen Positionen bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegen (sonst könnten sich keine konsistenten Assoziationen bilden).

Nativismus und Emprirismus

Kant ging davon aus, daß der Raum angeboren und nicht erlernt ist; Johannes Müller leitete daraus die Theorie ab, daß Räumlichkeit intrinsisch gegeben ist, wobei der Geist seine Wahrnehmungen so organisiert, daß die Vorstellung von Räumlichkeit entsteht.

Lotze kann als erster Vertreter der modernen Empiristen betrachtet werden: Er ging zwar von der Kantschen Vorstellung aus, Räumlichkeit sei intrinsisch gegeben, er glaubte aber, daß der wahrgenommene Raum (der über die Räumlichkeit hinausgeht) entsprechend erlernten Prinzipien organisiert ist. Betrachtet man die verschiedenen Standpunkte genauer, so findet man immer nativistische und empiristische Elemente. Boring unterscheidet deshalb folgende Teilprobleme:

  1. Räumlichkeit: Nach dem Kantschen Prinzip besitzt der Geist die Fähigkeit, räumliche Beziehungen wahrzunehmen, wobei die Idee des Raumes schon vorgegeben ist. Helmholtz versuchte zwar zu zeigen, daß die euklidischen Axiome erlernt sind, aber auch er hielt den Raum für angeboren. Prinzipiell waren sich alle Psychologen einig, daß der Raum a priori gegeben ist. Unterschiedliche Ansichten gab es allerdings über die höheren Organisationsprinzipien der Raumwahrnehmung.
  2. Lokale Zeichen: Die räumlichen Beziehungen zwischen den Erregungsmustern werden mehr oder weniger korrekt in der Wahrnehmung repräsentiert: Die Wahrnehmung eines Objektes, das zwischen zwei anderen Objekten liegt, wird wieder zwischen den entsprechenden Wahrnehmungen liegen. Die Objekte besitzen lokale Merkmale, die auch bei der Wahrnehmung erhalten bleiben Jedem Punkt muß ein lokales Zeichen zugeordnet sein, das eine bewußte Qualität sein kann, die die Position angibt, oder das ein physiologisches Potential sein kann, das zu unterschiedlichen Wahrnehmungseffekten führen kann.

    Nach Lotze (1852) kann jeder retinale und taktile Punkt von jedem anderen unterschieden werden. Er stellt sich diese lokalen Zeichen als Muster von Intensitäten vor; Wundt glaubte dagegen eher an unterscheidbare lokale einfache Qualitäten, deren Bedeutung erst erlernt werden muß. Die Nativisten (Hering, Stumpf) gingen dagegen davon aus, daß die lokalen Zeichen bereits intrinsisch eine räumliche Bedeutung besitzen: Hering glaubte sogar, daß jedem retinalen Punkt drei lokale Zeichen zugeordnet seinen (für jede Raumachse eines).

    Nach Meinung vieler Assoziationisten (Külpe, Titchener) lassen sich Wahrnehmungen räumlich unterscheiden, da ihnen unterschiedliche Assoziationen zugeordnet sind; Wahrnehmungen, die in allen bewußten Attributen gleich sind, können dennoch unterschieden werden (z.B. Druck auf linke oder rechte Hand). Die lokalen Zeichen entstehen damit aus einer unbewußten physiologischen Prädisposition. Hering ist schließlich der Meinung, daß das lokale Zeichen ursprünglich intrinsisch räumlich sei, so daß es die Position ohne Lernen repräsentiert.

  3. Lokalisierung: Die Empiristen glaubten an qualitative lokale Zeichen, die durch Erfahrung so aufeinander bezogen werden, daß jeder Punkt ein einer bestimmten Beziehung zu den anderen Punkten steht und daß alle Punkte zusammen ein räumliches Kontinuum bilden. Wundt entwickelte eine Theorie, nach der visuelle und taktile Raumwahrnehmung mit den kinästhetischen Empfindungen zusammenhängt, die bei Bewegung der Augen und des Körpers auftreten. Die räumliche Kontinuität ergibt sich aus der Kontinuität der Bewegungserfahrungen.
Der Nativismus von Hering ist nun in die nativistische Phänomenologie der Gestaltpsychologie übergegangen; der Empirismus von Helmholtz wurde vom Positivismus der Behavioristen abgelöst. Die modernen Theorien sind von Tatsachen geprägt, weniger von Weltanschauungen. Wichtig im Zusammenhang mit der Raumwahrnehmung sind folgende zwei Experimente:

Stratton (1896) trug für acht Tage ein System von Linsen, das das Netzhautbild invertiert (so daß es nun ``richtig'' ist). Nach anfänglicher Desorientierung konnte er sich gut an die Linsen anpassen. Dies bedeutet, daß die lokalen Zeichen neue Bedeutungen annehmen können. Stratton interpretierte die Anpassung als Interorganisation von motorischen, taktilen und visuellen Erfahrungen. Wenn aufgrund unerwarteter visueller Eindrücke eine falsche motorische Reaktion abgegeben wird, lernt man aus diesem Fehler und gibt beim nächsten mal die richtige Reaktion ab.

Das zweite Experiment ist nativistischer Art: Wooster (1923) und Gibson (1933) verwendeten spezielle Brillen, durch die gerade Linien gebogen aussehen. Nach einer gewissen Tragezeit (etwa eine Stunde) werden aber auch diese Linien wieder gerade empfunden. Daraus läßt sich schließen, daß man gerade Linien auch als solche sieht, da dem Organismus das entsprechende Schema (bzw. die Gestalt) inhärent ist.

Geometrische optische Täuschungen

Der Begriff der optischen Täuschungen ist schwierig zu definieren. Lotze (1852) bezeichnet sogar Farben als Illusionen, da sie nur im Beobachter existieren. Im 19. Jahrhundert (etwa 1860 beginnend und Höhepunkt etwa 1890) beschäftigte sich die Psychologie vor allem mit optischen Täuschungen, die in geometrischen Zeichnungen auftreten. Zu Beginn interessierte man sich vor allem für Kippfiguren, später untersuchte man das Problem der unterbrochenen Ausdehnung und der Überschätzung von Vertikalen gegenüber Horizontalen. Bekannt Beispiele für optische Täuschungen sind folgende:

Zwischen den verschiedenen Erklärungen läßt sich nicht entscheiden. Wenn aber die generellen Gesetzmäßigkeiten der Raumwahrnehmung bekannt sind, dann werden sich die Täuschungen besser verstehen lassen.

Eine wichtige Bedeutung dieser Täuschungen liegt darin, daß sie die Ansicht in Frage stellten, das retinale Abbild sei eine gute Kopie der Reize und die Wahrnehmung sei eine gute Kopie des retinalen Abbilds. Die Gestaltpsychologie stellte diese Ansicht in Frage. Sie zeigte, daß zwar die Wahrnehmung gut mit dem Reiz übereinstimmt, aber nicht unbedingt mit dem retinalen Abbild. Besonders deutlich sieht man dies an der dreidimensionalen Wahrnehmung, die von der zweidimensionalen Retina vermittelt wird.

Dynamische Gestalten

Der Hauptbeitrag der Gestaltpsychologie als Psychologie der wahrgenommenen Form liegt darin zu betonen, daß die Wahrnehmung bestimmten dynamischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die ihr eine spezifische psychologische Organisation verleihen. Die Wahrnehmung ist daher keine Kopie des Reizes. Grundgedanke ist sozusagen eine Top-Down-Verarbeitung: Auch zentralnervöse Faktoren (beispielsweise Einstellungen oder vorangegangene Erfahrungen des Organismus) können die Wahrnehmung beeinflussen.

1890 rief von Ehrenfels die Doktrin von den Gestaltqualitäten ins Leben: Eine Gestalt, z.B. eine geometrische Form oder eine tonale Melodie, geht über ihre Elemente, aus denen sie sich zusammensetzt, hinaus. Als Methode wurde die experimentelle Phänomenologie angewandt: In Göttingen und Frankfurt entstand die Methode der phänomenologischen Beschreibung ohne Analyse der einzelnen Elemente. Eine der ersten derartigen Untersuchungen stammt von Schumann (1900, 1904). Er versuchte, Wahrnehmung durch die Beschreibung von unmittelbaren Erfahrungen zu erklären. Er fand, daß bei der visuellen Wahrnehmung von Form, Größe und Richtung einzelne Elemente nur von geringem Nutzen waren. Dabei verbindet die Aufmerksamkeit die einzelnen Elemente zu einem Ganzen. Unter Aufmersamkeit versteht Schumann das dynamische Prinzip, das die Wahrnehmung organisiert. Aber schon Schumann betonte, daß objektive Faktoren der Reize bzw. der Reizanordnung bestimmen, welche Organisationsprinzipien zum Tragen kommen.

Jaensch (1909) untersuchte das Aubert-Förster-Gesetz, nach dem die Sehschärfe für nahe Objekte größer ist als für entfernte. Daraus ergibt sich, daß die räumliche Diskrimination auch von anderen Faktoren der Wahrnehmungssituation abhängt als von der retinalen Entfernung der einzelnen Punkte.

Katz (1911) beschäftigte sich mit dem Farbeindruck. Dabei unterschied er Oberflächenfarben, durchsichtige Farben und Flächenfarben. Er erfand auch den Reduktions-Schirm (Fläche mit einem Loch, durch das Objekte betrachtet werden können), durch den Objektfarben zu Flächenfarben werden. Rubin (1915) beschäftigte sich mit dem Figur-Grund-Prinzip. Wertheimer (1912) untersuchte Scheinbewegungen (das sog. Phi-Phänomen): Diskrete Ortsveränderungen von retinalen Reizungen können als Bewegung wahrgenommen werden, wenn zwei Objekte langsam genug nacheinander erscheinen oder schnell genug gleichzeitig. Wertheimer konnte damit zeigen, daß Bewegung ein eigenständiges wahrnehmbares Phänomen ist (und nicht nur eine Ortsveränderung in der Zeit).

Gestaltpsychologie und Gestaltgesetze

Der Beginn der Gestaltpsychologie wird durch das Buch Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand von Köhler (1920) gebildet, das die Dynamik der Herausbildung von Gestalten zum Inhalt hat. Er zeigt auch, daß die Dynamik physikalischer Systeme in vielen Fällen auch in deren Wahrnehmung gilt. Deshalb will er durch das Prinzip des Isomorphismus physikalische Gesetzmäßigkeiten auch auf die Psychologie anwenden.

In der Folge beschäftigten sich die meisten Abhandlungen mit der Beschreibung besonderer Phänomene (experimenta crucis), die die Gestaltprinzipien verdeutlichen (siehe Köhler, Koffka, Wertheimer usw.). Es existieren unterschiedliche Darstellungen der Gestaltgesetze: Helson (1933) nennt beispielsweise 114 Gestaltgesetze, von denen aber nur sechs auf die visuelle Wahrnehmung anwendbar sind. Boring nennt folgende 14 Gesetze als die wichtigsten:

Besonders wichtig sind dabei die Gesetze der Transposition, in der die Gestaltqualitäten besonders deutlich zum Ausdruck kommen, und der Konstanz. Köhler (1917-1918) konnte das Prinzip der Transposition von ``größer als''- oder ``heller als''-Relationen bei Kindern, Affen und Hühnern nachweisen.

Das Prinzip der Konstanz zeigt sich unter anderen in dem Phänomen der Farbkonstanz, das von Hering (1905) beschrieben wird. Hierunter sind auch die von Katz (1911) beschriebenen Gedächtnisfarben zu rechnen, die eine höhere Stabilität von Oberflächenfarben gewährleisten. Später entwickelte sich aus dem Gesetz der Konstanz das von Brunswik (1933) vertretene Prinzip der Objektkonstanz, das für den Organismus in einer sich ständig verändernden Welt von hohem Überlebenswert ist.

Die beiden Prinzipien der Transposition und der Konstanz sind einander so ähnlich, daß man sich nicht strikt voneinander trennen kann. Beiden liegt eine Konstanz von Relationen zugrunde, die auch bei veränderten Daten erhalten bleibt.


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Last modified 10-29-98