Whitaker (1998) versteht unter Navigation im engeren Sinne das Bewegen in einem Raum, in einem weiteren Sinne fallen darunter auch virtuelle Bewegungen durch kognitive Räume, die sich aus Daten und den aus diesen entstehenden Wissensstrukturen zusammensetzen. Jede Form der Navigation setzt beim Benutzer kognitive Fähigkeiten voraus.
Auch beim Lesen von Büchern muß nicht strikt linear vorgegangen werden. Selbst hierbei werden unterschiedliche Navigationshilfen eingesetzt, insbesondere für die jeweilige Textart spezifische Schemata (bei Büchern wird beispielsweise vorne ein Inhaltsverzeichnis erwartet, ...). Auch Verweise zwischen einzelnen Abschnitten sind möglich (durch Kommentare wie siehe oben. Bei Hypertexten spielen diese Navigationshilfen eine größere Rolle als bei herkömmlichen Texten, was sich beispielsweise darin zeigt, daß ein höherer Anteil der Lesezeiten bei solchen Hilfen zugebracht wird.
Nach Dillon, McKnight und Richardson (1993) läßt sich Navigation im Rahmen der Schematheorie, die zwischen globalen (permanenten und abstrakten) und instantiierten (temporären, an den Einzelfall angepaßten) Schemata unterscheidet, auf vier Stufen repräsentieren:
Wissen über Routen läßt sich feststellen durch verbale Wegbeschreibungen, die Anzahl falsch gewählter Abzweigungen, die Anzahl von rückgängig gemachten Schritten, das Abkommen vom Weg (bzw. die Anzahl der Personen, bei denen dies geschieht), das Anordnen von Fotos von Routensegmenten oder Landmarken in der richtigen Reihenfolge usw.
Dillon et al. (1993) betonen dabei, daß zwischen diesen Stufen keine klare Abgrenzung möglich ist, sondern daß ein Kontinuum angenommen werden muß. Für verschiedene Aufgaben werden unterschiedliche Stufen eingesetzt. Die hier verwendeten Schemata entsprechen etwa den Konzept der Skripten von Schank und Abelson bzw. dem der mentalen Modelle von Johnson-Laird. Dadurch werden nur strukturelle Aspekte der Navigation erfaßt, keine funktionalen (lohnt es sich, an einen bestimmten Punkt zu navigieren?).
O'Keefe und Nadel (1979) beschäftigen sich mit den physiologischen Grundlagen von ``kognitiven'' Landkarten. Sie unterscheiden dabei zwei Navigationsparadigmen:
Aufgrund von Tierversuchen und Untersuchungen zur Auswirkung von Läsionen kommen sie zu dem Schluß, daß diese Landkarten im Hippocampus gebildet werden und gespeichert sind. Es handelt sich dabei um eine Repräsentation der räumlichen Umgebung, wie sie vom jeweiligen Organismus erfahren wird. Diese Landkarten bilden die Grundlage für objektive, nicht-egozentrische Raumkognition (für egozentrische Räume, die sich an unterschiedlichen Körperachsen ausrichten, sind dagegen andere physiologische Strukturen zuständig).
Die Physiologie und Anatomie der Hippocampusformation entsprechen der Vorstellung einer geometrischen Abbildung (mapping) der räumlichen Information auf Neurone, wobei zwischen orts-kodierenden Neuronen und Neuigkeits-Detektoren unterschieden werden muß. Diese Strukturen existieren sowohl bei Nagetieren und Katzen, als auch beim Menschen. Die Repräsentation räumlicher Landkarten ist aber beim Menschen auf die rechte Hemisphäre beschränkt, in der linken Hemisphäre wird auf eine analoge Weise die semantische Tiefenstruktur verbalen Materials gespeichert und verarbeitet.
Nach Dillon et al. (1993) besitzen gedruckte Dokumente ein gewisse prototypische Struktur, die zum Auffinden bestimmter Informationseinheiten eingesetzt werden kann, wobei diese Struktur in Form von Konventionen gegeben sein kann oder aus den grundlegenden Komponenten extrahiert wird, aus denen sich beim Leser die mentale Repräsentation des Textes zusammensetzt. Beispiele sind das Inhaltsverzeichnis zu Beginn und der Index am Ende eines Buchs oder die Laschen (tabs), die als Index in den Rand von Nachschlagewerken eingestanzt sind.
Nach der Theorie zum Textverständnis von van Djik und Kintsch erwirbt der Leser durch Erfahrung Schemata (Superstrukturen, über die sozialer Konsens herrscht), die das Textverständnis erleichtern, weil sie die wahrscheinliche Anordnung und Gruppierung der einzelnen Textelemente vorhersagen können. Für jeden Texttyp (z.B. Zeitungsartikel, Buch, wissenschaftliche Arbeit) existieren unterschiedliche Superstrukturen. Artikel, die den entsprechenden Schemata entsprechen, werden besser und schneller erfaßt. Neben der Superstruktur besitzt der Text außerdem ein Mikrostruktur und eine Makrostruktur. Diese eher linguistische Perspektive ähnelt der psychologischen Ansicht von Johnson-Laird, nach der für die unterschiedlichen Texttypen verschiedene mentale Modelle existieren.
Dillon et al. (1993) nennen mehrere empirische Untersuchungen zur Fähigkeit von Lesern, die in Textfragmenten enthaltene Struktur zu erkennen (und die Fragmente dadurch zu einem Gesamttext zusammenzufügen). Die Versuchspersonen besitzen für bestimmte Texttypen (z.B. wissenschaftliche Artikel) entsprechende Superstrukturen, die Erwartungen über den üblichen Inhalt und ``räumlichen'' Aufbau des Textes aktivieren.
In Büchern können Inhaltsverzeichnisse, Überschriften usw. als Landmarken eingesetzt werden, die den Leser über dessen momentane Position innerhalb des Textes informieren; dazu kann beispielsweise auch eine Häufung von Grafiken dienen (Hinweis auf Ergebnisteil). Oft können Leser sogar angeben, wo innerhalb eines Textes eine bestimmte Information zu finden ist, an die sie sich nicht mehr genau erinnern können. Auch wenn der Inhalt eines Textes memoriert werden soll, können die Leser oft Angaben über den (räumlichen) Ort von Informationen liefern. Dieses Wissen über die Position einer Information korreliert mit der Genauigkeit, mit der inhaltliche Fragen beantwortet werden können. Dillon et al. (1993) begründen diesen Zusammenhang damit, daß die Erinnerungen der Position und des Inhalts voneinander unabhängige Gedächtnisattribute sind, die über Assoziationen miteinander verknüpft sind.
Routenwissen und Übersichtswissen spielt bei herkömmlichen Texten nur eine untergeordnete Rolle, da die Navigation auch ohne diese Wissensformen sehr einfach ist (man kann Seiten bei Kenntnis der Seitennummer direkt anspringen). Eine Ausnahme bilden hochstrukturierte Texte wie Lexikoneinträge: Routenwissen könnte eingesetzt werden, wenn man nicht mehr weiß, unter welchem Stichpunkt eine bestimmte Information zu finden ist, man aber noch erinnern kann, welcher andere Stichpunkt auf die entsprechende Informationseinheit verweist.
Die Navigation in Hypertexten bietet mehr Möglichkeiten als in linearen Texten, allerdings führt sie zu einer höheren kognitiven Belastung des Lesers. Für die Navigation im Cyberspace bzw. in elektronischen Dokumenten haben sich bisher keine Schemata wie bei gedruckten Medien etabliert, da diese Technologien noch zu neu sind. Außerdem verändern sich die Betrachtungswerkzeuge im Verlauf der Zeit sehr stark (alle paar Jahre völlig neue Versionen), zudem werden nicht alle elektronischen Dokumente durch das selbe Interface betrachtet. Daher ist es auch fragwürdig, ob sich in Zukunft entsprechende allgemeingültige Schemata ausbilden werden.
Aufgrund der Tatsache, daß Hypertextautoren eine bestimmte Information auf viele verschiedene Arten präsentieren können, wird die Bildung entsprechender Schemata weiter erschwert. Außerdem besitzen selbst die erfahrensten Hypertext-Benutzer im Vergleich zum Lesen gedruckter Medien nur relativ geringe Erfahrungen. Außerdem konnte sich bisher kein formaler Standard für die Gestaltung von Hypertexten herausbilden (Bücher wurden dagegen in früherer Zeit nur von Klöstern produziert, so daß eine gewisse Einheitlichkeit gegeben war).
Bereits beim Öffnen eines Hypertextdokuments liegen üblicherweise weniger Informationen vor als beim Aufschlagen eines Buchs, das bereits Hinweise zum Gesamtumfang, zur Qualität es Inhalts, zum Alter, zur Benutzungshäufigkeit usw. erkennen läßt. Fisher (1994) schlägt vor, wie bei gedruckten Medien auch, ein (anklickbares) Inhaltsverzeichnis an den Anfang zu stellen. Von diesem Inhaltsverzeichnis sollte man dann beispielsweise zu folgenden Einheiten gelangen können:
Beim Navigieren in Menühierarchien wird bei Unsicherheiten oder Fehlern meist zur obersten Ebene zurückgegangen; dies deutet darauf hin, daß hier nur Landmarken-Wissen und kein Routen-Wissen eingesetzt wird. Auch in diesem Zusammenhang läßt sich zeigen, daß das Gedächtnis für die Lage deutlich schwächer ausgeprägt ist als das Gedächtnis für verbale Bezeichnungen der Menüeinträge.
Bei der Navigation in Hypertexten wird sehr häufig auf den Index zurückgegriffen, der ebenfalls eine Landmarke darstellt. Werden die Benutzer von Hypertexten aufgefordert, deren Struktur aufzuzeichnen, so gelingt ihnen dies jeweils nur für kleinere Ausschnitte. Der Einsatz von grafischen Browsern erfolgt meist wenig theoriegeleitet; sind diese Werkzeuge selbst sehr komplex, besteht auch die Gefahr des Orientierungsverlustes im Browser! Dillon et al. (1993) nennen auch Untersuchungen, die die Wirksamkeit solcher Browser belegen, sowie neuere Techniken zu deren automatischen Erstellung (wie automatische Indexierung und Aggregierung sowie Einsatz von benutzerspezifischen Profilen).
Ein großes Problem bereitet für Hypertexte die Navigation in semantischen Räumen (hierbei handelt es sich um ein unbeobachtbares psycholinguistisches Konzept eines n-dimensionalen und unbegrenzten Raumes): Es ist für den Benutzer schwierig, die Argumentationsstruktur des Autors nachzuvollziehen. Es ist schwierig, Maße der semantischen Ähnlichkeit zu definieren (wie das Osgoodsche Differential). Bei der Navigation in Hypertexten kann nur in den physikalischen Räumen navigiert werden, die aus dem semantischen Raum des Autors entwickelt worden sind.
Fisher (1994) nennt verschiedene Orientierungshilfen, die einerseits die Navigation im Hypertext und andererseits auch das Erlernen von dessen Struktur erleichtern sollen:
Solche Übersichten sind sowohl für Anfänger (sie lernen die Struktur des Textes kennen) als auch für Experten (zum Wiedererkennen bekannter Navigationsmöglichkeiten) hilfreich. Sie dienen nicht nur als Navigationshilfe, sondern auch dazu, dem Benutzer zu zeigen, welche Informationen in dem jeweiligen Text vorhanden sind. Schließlich helfen sie auch, zu vorher besuchten Stationen zurückzufinden.
Der Einsatz von grafischen Elementen mit hohem Aufforderungscharakter (affordance) bietet sich in diesem Zusammenhang an, d.h. es sollten solche grafische Darstellungen gewählt werden, deren Funktion deutlich erkennbar ist. Dabei kann es sich auch um erlernte Muster handeln, z.B. die typischen durch Schattierung plastisch erscheinenden Buttons.
Den hier dargestellten Überlegungen liegt meist die implizite Annahme zugrunde, daß die Navigation im Hypertext auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet ist. Nach Whitaker (1998) kann man aber auch Navigation zur Exploration betreiben. Hierbei ist es besonders wichtig, daß das System dem Benutzer dessen momentane Lage vermitteln kann (situation awareness). Dazu muß kontinuierlich Information über die Umgebung zusammen mit Wissen über vorausgegangene Schritte zu einem mentalen Modell integriert werden. Hilfreich sind dabei eine Historienliste (die die bereits besuchten Landmarken enthält) und Bookmarks.
Whitaker (1998) unterscheidet auch zwischen der Navigation in strukturierten (Metapher: Stadt) und in unstrukturierten (Metapher: offenes Land) Umgebungen. Strukturierte Umgebungen zeichnen sich durch Landmarken und gewisse Regelmäßigkeiten aus. In Hypertexten könnten sich diese Regelmäßigkeiten in einem konsistenten Design und in der Verwendung immer gleicher, markanter Ikonen widerspiegeln. Auch die Darstellung bestimmter Informationen (z.B. von Statusmeldungen) an bestimmten Positionen innerhalb des Fensters trägt zur Strukturierung bei. Wichtig sind nach Whitacker (1998) auch folgende Kriterien:
Bei einem typischen Hypertextsystem entspricht ein am Bildschirm angezeigtes Fenster einem Knoten der zugrundeliegenden Datenbank. Letztlich verfolgt man das Ziel, das Navigieren optimal in die Datenbank zu integrieren, so daß der Benutzer seine kognitiven Ressourcen direkt auf die jeweilige Aufgabe richten kann und nicht auf den Gebrauch des Systems. Die Entwicklung derartiger Systeme läuft zyklisch ab: Aufgrund realer oder antizipierter Probleme der Benutzer werden bestimmte Design-Richtlinien spezifiziert, die bei der Entwicklung des Systems realisiert werden. Nach Fertigstellung erfolgt eine Evaluation (beispielsweise durch Experten oder Benutzerstudien), die möglicherweise wiederum Probleme der Benutzer aufdeckt. Der Entwicklungszyklus beginnt dann von Neuem.
Der Informationsabruf kann in Hypertexten auf dreierlei Art erfolgen:
Nach Foss (1989) besteht Browsing im Besuchen einer Menge an zusammengehörigen Konzepten auf dem Weg zum eigentlichen Ziel hin (und eben nicht im direkten Abruf des Items). Die Anwendung von Browsing-Strategien kann auch die ursprünglichen Ziele des Benutzers verändern oder neu definieren. Nach Canter et al. (1985) lassen sich beim Browsing verschiedene Strategien unterscheiden:
Ein Problem bei der Benutzung von Hypertexten stellt der Orientierungsverlust dar: Man weiß nicht mehr, wo im Hypertext man sich befindet oder man weiß nicht wie man zu einer Information gelangen kann, die vermutlich im Hypertext enthalten ist. Herkömmliche Texte (z.B. Bücher) sind meist nicht nur von geringerem Umfang, sondern sie enthalten auch paratextuelle Orientierungshilfen (Übersichten, Zusammenfassungen, bestimmtes Aufbauschema). Ein Orientierungsverlust kann aus unterschiedlichen Ursachen folgen (cf. Foss, 1989):
Der Orientierungsverlust (wenn der Benutzer keine klaren Vorstellungen von den Beziehungen der Einheiten des Systems untereinander hat) läßt sich durch geeignete Navigationshilfen verhindern, die die Bildung einer räumlichen Landkarte der Datenstruktur ermöglichen. Nach Elm und Woods (1985) zeichnet sich eine gute räumliche Navigation durch folgende Eigenschaften aus: